Zur Zeit Wallers und Einthovens waren die Kenntnisse über die die Herzaktion steuernden elektrischen Abläufe noch sehr begrenzt. Dies muss berücksichtigt werden, wenn manche Erklärungsansätze, die auch heute noch im Zusammenhang mit der Deutung elektrokardiographischer Phänomene genutzt werden, doch etwas altertümlich wirken.
Zu den Grundkonzepten der Elektrokardiographie gehören u. a. folgende Aspekte, die in den nachfolgenden Abbildungen schematisch dargestellt sind:
Abb.: A) Myokardzelle (Schema unten) im Ruhezustand. An der Membraninnenseite finden sich negative Ladungen, an der Membranaußenseite positive Ladungen. Das Membranpotenzial (Ruhemembranpotenzial) beträgt (intrazellulär gegenüber extrazellulär gemessen) etwa -90 mV (oben). B) Die Erregung der Muskelzelle führt zu einem Aktionspotenzial (oben). Erregte Zellen weisen extrazellulär eine negative Ladung und intrazellulär eine positive Ladung auf. Zu Beginn des Aktionspotenzials beträgt das Membranpotenzial (intrazellulär gegenüber extrazellulär gemessen) etwa +15 mV. 0: Aufstrichphase des Aktionpotenzials, 2: Overshoot, 3: Plateau, 4: Ruhephase.
Bei Betrachtung einer Myokardfaser, die aus zahlreichen Myokardzellen besteht, und die häufig als Modell für elektrokardiographische Phänomene genutzt wird, geht es um die extrazellulär vorhandenen Ladungsunterschiede. Bei der Erregung einer solchen Faser resultiert eine Potenzialdifferenz zwischen erregten (elektronegativen) und unerregten (elektropositiven) Abschnitten der Faser. Der elektrische Strom fließt vom erregten (extrazellulär negativen - grauer Bereich) zum unerregten (extrazellulär positivem) Myokard.
Abb.: Myokardfaser. Bei der Erregung kommt es zu einer Umverteilung der extrazellulären elektrischen Ladungen. Erregtes Myokard ist extrazellulär elektronegativ, unerregtes Myokard elektropositiv.
Bei der Messung der resultierenden Potenziadifferenz ergibt sich (basierend auf der Stromrichtung, siehe oben) ein positiver Ausschlag, wenn sich die Erregung auf die Elektrode hin bewegt. Der Ausschlag ist negativ, wenn sie sich von der registrierenden Elektrode weg bewegt.
Abb.: Messung der Potenzialdifferenz bei Erregung einer Myokardfaser. Die resultierende (und mittels unipolarer Elektroden messbare,) Potenzialdifferenz hängt von der Richtung des Erregungsablaufs ab.
Bei der Elektrokardiographie werden die so vom Herzen generierten, auf der Körperoberfläche messbaren Potentialdifferenzen unter Anwendung von standardisierten Ableitpunkten (den EKG-Ableitungen) gemessen und in Abhängigkeit von der Zeit graphisch dargestellt.
Durch die unterschiedlichen elektrischen Ladungen, die räumlich benachbart sind, aber nicht zusammenfallen (und so ein elektrisches Feld bilden), wird in erster Näherung ein sog. elektrischer Dipol erzeugt. Ein Dipol ist eine Größe mit Vektorcharakter, d. h. es gibt einen Betrag, der die Stärke des Dipols kennzeichnet sowie eine Richtung.
Die Abbildung zeigt einen zu einem bestimmten Zeitpunkt während einer Herzaktion auftretenden mittleren Vektor (Summationsvektor). Er setzt sich aus zahlreichen mehr oder weniger unterschiedlich ausgerichteten einzelnen Vektoren zusammen und variiert in Abhängigkeit vom Zeitpunkt innerhalb eines Herzzyklus in seiner Größe und Ausrichtung.
Abb.: Links: Nach entsprechender Reizung (physiologischerweise erfolgt die kardiale Reizbildung im Sinusknoten) fließt ein elektrischer Strom von erregten (elektronegativen) zu unerregten (elektropositiven) Muskelanteilen. Rechts: Die Möglichkeit der Ableitung der resultierenden Potenzialdifferenzen auf der Körperoberfläche ergibt sich dadurch, dass sich das Herz in einem schwach leitenden Medium befindet (dem Rumpf des Körpers). Man kann sich den erregten Herzmuskel als Spannungsquelle mit zwei Polen unterschiedlicher Polarität (gekennzeichnet durch +/-) vorstellen. Von dieser Spannungsquelle breitet sich ein sog. elektrische Feld bis auf die Körperoberfläche aus. Jeder Punkt des elektrischen Feldes besitzt dabei ein ganz bestimmtes Potential. Punkte gleichen Potentials lassen sich durch sog. „Äquipotentiallinien“ darstellen.
Die Ausrichtung der gerade besprochenen Dipolvektoren erfolgt im dreidimensionalen Raum. Bei der vektoriellen Deutung des EKGs wird versucht, durch die Betrachtung der Hauptsummationsvektoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln (über die Zeit) den Erregungsablauf des Herzens zu rekonstruieren.
Es ist zu berücksichtigen, das das Herz aus elektrokardiographischer Sicht nur aus "2 Kammern" besteht, deren Aktivierung zeitlich getrennt (sequentiell) erfolgt. Die "eine Kammer" besteht aus den beiden Vorhöfen. Zwischen den beiden Vorhöfen findet sich kein elektrisch isolierendes Element, so dass sie elektrisch gesehen eine Einheit bilden, die sich im EKG als P-Welle darstellt. Die "andere Kammer" bilden der rechte und linke Ventrikel. Die größere Masse des linken Ventrikel führt zu einer Dominanz bei der Ausbildung des QRS-Komplexes. Die Separierung dieser beiden elektrischen Einheiten erfolgt durch den fibrösen atrioventrikulären Ring. Die elektrische Kommunikation zwischen beiden Kammern erfolgt durch das Reizleitungssystem.
Bei der klassischen Vektorkardiographie wird das Kreisen der Dipolspitze um die Vektorbasis im Verlauf des Herzzyklus explizit aufgezeichnet. Es ergeben sich separate Vektorschleifen für die Vorhofaktivierung (P-Schleife), für die Aktivierung der Kammern (QRS-Schleife) und für die Erregungsrückbildung (T-Schleife). Voraussetzung für die Konstruktion solcher Vektorschleifen ist, dass die resultierenden Potenzialdifferenzen zu jedem Zeitpunkt in allen drei Raumrichtungen gemessen werden. Ihren Höhepunkt hatte die Vektorkardiographie in den 1940er und 1950er Jahren. Klinisch wurde und wird sie aber selten eingesetzt, weil die Interpretation von „Vektorschleifen“ zumeist schwierig ist.
Wenn wir heute ein Standard 12-Kanal-EKG interpretieren, spielt die vektorielle Deutung des EKGs insofern eine wichtige Rolle, als das die Rekonstruktion der Ausrichtung des Hauptsummationsvektors und der einzelnen Summationsvektoren im Kopf des Auswerters erfolgt. Allerdings stehen hierfür nur 2 Ableitebenen, die Vertikalebene, in der die Einthoven- und Goldberger-Ableitungen liegen, sowie die Horizontalebene mit den Wilson-Ableitungen zur Verfügung. Dieses Vorgehen setzt eine gute Kenntnis der normalen Erregungsausbreitung und -rückbildung voraus . Ein gutes Abstraktionsvermögen ist ebenfalls hilfreich. Die Anforderungen ist hier ähnlich wie bei # der m-Mode-Echokardiographie, die auch nur Informationen in einer räumlichen Ebene liefert.
Die Größe der während einer Herzaktion auf der Körperoberfläche gemessenen Potentialdifferenzen hängt u. a. ab von der Entfernung der ableitenden Elektroden vom Herzen. Je weiter diese vom Herzen entfernt platziert werden, desto kleiner sind die resultierenden Potenzialdifferenzen. In der Entfernung zum Herzen ergeben sich nicht nur Unterschiede zwischen den einzelnen Elektroden des Standard-EKGs, sondern auch in Abhängigkeit vom Geschlecht und Habitus. Auch die Komposition des Torsos spielt eine Rolle. Bei einem Lungenemphysem mit erhöhtem Luftgehalt der Lungen nehmen die QRS-Amplituden in Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung ab.
Als inverses Problem der Elektrokardiographie wird der Versuch der Rückwärtsrechnung des elektrischen Verhaltens des Herzens (z. B. im Sinne der Rekonstruktion epikardialer Elektrogramme) aus dem Oberflächen-EKG bezeichnet. Das inverse Problem ist eine Herausforderung, mit der sich die Wissenschaft seit Dekaden beschäftigt. Um solche Rekonstruktionen durchzuführen muss u. a. ein dreidimensionales Leitfähigkeitsmodell des Thorax erstellt werden. Hierzu werden heute die Computertomographie und/oder Magnetresonanztomographie genutzt. Die geringe Anzahl der Oberflächen-Elektroden des Standard 12-Kanal-EKGs reicht für solche Rekonstruktionen nicht aus. Bei dem für die Rückwärtsrechnung eingesetzten sog. Body-Surface-EKG-Mapping werden nicht selten mehr als 200 Elektroden verwendet, was einen erheblichen technischen und organisatorischen Aufwand erfordert.
Im Weiteren wird nicht weiter auf die Lösung des inversen Problems eingegangen. Es wird hier erwähnt, um dran zu erinnern, dass die Informationen, die wird aus dem Standard 12-Kanal-EKG ableiten, oft nur einem vielfach vereinfachten Modell der sich tatsächlich abspielenden Prozesse folgen.
Literatur
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